Dr. Heiko Fischer präsidiert die International Union of Wagon Keepers UIP. Mit dem VAP spricht der ehemalige VTG-Chef über die Zukunft des europäischen Schienengüterverkehrs und die digitale Transformation des Bahnsektors. Für diesen wünscht er sich mehr Begeisterung und erläutert, warum er das Einstellen des Einzelwagenladungsverkehrs in der Schweiz für fatal hält.
Herr Dr. Fischer, wo sehen Sie die grössten Herausforderungen und wo die Stellschrauben für den europäischen Bahnmarkt?
Da gibt es eine ganze Reihe. Die Bahninfrastruktur ist veraltet oder vielerorts ein historisch gewachsener Flickenteppich. Noch immer existieren Grenzen zwischen den Teilsystemen. Mit jedem Jahr, in dem nichts geschieht, wird das Problem grösser, denn die Infrastruktur altert unbeirrt weiter. Hier sehe ich die Stellschraube in der mitteleuropaweiten Koordination von Ausbauplänen, Entlastungsstrecken und entsprechenden baulichen Massnahmen. Zwar verfolgen die transeuropäischen Netze diesen integrativen Ansatz. Doch Nebenstrecken und Feinverteilungsnetze dürfen nicht ausgenommen werden, wenn es um Investitionsallokation, Ausbau- und Erneuerungsplanung, Zugsteuerungssysteme sowie Regulierung geht.
Eine weitere Steuergrösse sehe ich in der kompletten Durchdigitalisierung des Bahnsektors, angefangen bei der Vernetzung der Infrastruktur über das Rollmaterial bis hin zum operativen Betrieb. Hier sollte es eine vereinheitlichte Logik mit entsprechenden Schnittstellen geben. In der Folge kann eine Elektrifizierung mit Mass und Ziel stattfinden. Gering belastete Strecken könnten auch von wasserstoffbetriebenen Hybridlocks bedient werden.
«Für gewisse Dringlichkeiten ist der Schienengüterverkehr auf öffentliche Gelder angewiesen, zum Beispiel für die Basisdigitalisierung, den Infrastrukturausbau, die Elektrifizierung, die Implementierung der digitalen automatischen Kupplung DAK und andere zeitkritischer Sprunginnovationen.»
Das verfügbare Kapital ist ebenfalls ein Eckpfeiler. Der Bahnmarkt braucht nicht nur ausreichend Privatkapital. Für gewisse Dringlichkeiten ist er auf öffentliche Gelder angewiesen, zum Beispiel für die Basisdigitalisierung, den Infrastrukturausbau, die Elektrifizierung, die Implementierung der digitalen automatischen Kupplung DAK und andere zeitkritischer Sprunginnovationen. Solche Investitionen übersteigen die finanziellen Kräfte der Privatwirtschaft und der meisten Staatsbahnen. Schliesslich möchte niemand in Technologien investieren, die erst im nächsten Jahrzehnt Früchte abwerfen, vielleicht sogar bei anderen Akteuren des Bahnsystems. Damit bin ich bei einer weiteren Stellschraube angelangt: Wir brauchen auch bei Regierungen, Regulierern und Politikern ein verankertes ökonomisches Verständnis für die Wirkmechanismen des Schienengüterverkehrs. Das bedingt ein Umdenken aller Systembeteiligten.
Inwiefern?
Der Bahnsektor ist nicht gerade bekannt dafür, proaktiv zu denken und Neues schnell zu implementieren. Viele sehen sich als Opfer, sei es von der Vergangenheit, von falschen Entscheidungen, von der Strasse, vom Wetter oder von irgendetwas anderem. Das muss sich meines Erachtens unbedingt ändern. Schliesslich ziehen wir nicht Güterzüge durch die Gegend, weil es uns Spass macht, sondern weil wir einen Mehrwert für die Verlader und unser Gemeinwesen erwirtschaften wollen. Die Akteure des Schienengüterverkehrs müssen den Kunden zurück in den Mittelpunkt rücken und sich dessen zukünftige Bedürfnisse vergegenwärtigen. Damit sich der anstehende Wandel tatsächlich vollziehen lassen, brauchen wir mehr Aufbruchsmentalität, eine «can do»-Attitüde.
Welche Innovationen haben Sie in den letzten Jahren bei der VTG vorangetrieben, welche davon waren bahnbrechend?
Spontan fällt mir da VTG Connect ein. Diese Telematiktechnologie erhebt relevante Daten über die gesamte Flotte und viele Transporte. Sie schafft die Basis für ein effizientes digitales Flottenmanagement, denn sie macht Daten für Kunden, Güterbahnen und Instandhaltungszwecke nutzbar. Mit dieser Innovation haben wir den Einstieg in die Echtzeit-Datenübermittlung im Güterverkehr wie von der DAK angestrebt sozusagen aufgegleist.
Welchen zukünftigen Stellenwert räumen Sie der DAK ein?
Für die digitale Transformation des Bahnsektors ist die DAK ein Katalysator. Damit lassen sich eine neue Steuerungslogik und Echtzeitdatenströme abbilden. Davon sind wir heute weit entfernt. Die DAK macht mehr als den Kupplungsvorgang zu automatisieren. Sie vernetzt Lokführer, Ladung, Ladungsträger und Energie, also Strom. Das Potenzial daraus kombiniert mit neuen digitalen Technologien ist immens. Die DAK ist nicht nur eine intelligente Zug- und Ladungssteuerung, sondern auch Möglichmacher für andere Digitalisierungsoffensiven wie zum Beispiel digitale Daten‑, Zugsteuerungs- und Buchungsplattformen.
«Es wird sicherlich mehrere Plattformen geben, denn nach wie vor wird jedes Unternehmen Informationen sammeln, die es nicht teilen kann oder darf. Eine oder auch mehrere dieser Plattformen werden sich als zentrale Drehscheiben hervortun, die den operativen Bahnbetrieb steuern.»
Welche Rolle werden diese in Zukunft spielen?
Es wird sicherlich mehrere Plattformen geben, denn nach wie vor wird jedes Unternehmen Informationen sammeln, die es nicht teilen kann oder darf. Eine oder auch mehrere dieser Plattformen werden sich als zentrale Drehscheiben hervortun, die den operativen Bahnbetrieb steuern. Als solche liefern sie den Güterverkehrsakteuren verlässliche Informationen, mit denen sich die Abstände zwischen den Zügen verringern, Zeitfenster errechnen und mehr Tonnagen pro Zeiteinheit aufs Gleis bringen lassen. Ein europaweites elektronisches Güterverkehrssteuerungssystem darf nicht von einem Tech-Riese à la Google kommen, sondern sollte sich aus dem Bahnsektor selbst herausentwickeln. Damit zeigen wir Innovationsstärke gegenüber anderen Verkehrsträgern.
Vielleicht gibt es in Zukunft sogar eine übergeordnete Instanz in der Art von Eurocontrol für die zentrale Koordination der Luftverkehrskontrolle. Ein derartiges Cockpit könnte den europäischen Schienengüterverkehr steuern, den Lokführern gewisse Vorgaben machen, gegebenenfalls eingreifen und später autonome Züge fahren lassen. Solche Quantensprünge sind allerdings nur möglich, wenn digitale Technologien mit künstlicher Intelligenz implementiert werden und greifen. Nur sie bringen Dynamik und sorgen für das nötige Tempo, das für den Erfolg der digitalen Transformation absolut zentral ist.
Wie liesse sich der Schienengüterverkehr in Europa nachhaltig weiterentwickeln?
Mit etwas, das die ökonomische Wirkung des Güterverkehrs auf einen Nenner bringt und wozu sich alle Akteure verpflichten. Ich kann mir vorstellen, dass es eines Tages einen langfristigen Masterplan im Sinne einer selbstregulierenden und doch verpflichtenden Absichtserklärung gibt. Alle beteiligten staatlichen und nichtstaatlichen Bahnen müssten sie mitunterzeichnen. Dieser Masterplan könnte festhalten, dass man gemeinsam auf eine Verkehrsverlagerung hinarbeitet. Ich erinnere an den allgemeinen Verwendungsvertrag AVV von 2006. Dieser regelt das Zusammenspiel zwischen Waggonhaltern und Eisenbahnverkehrsunternehmen als Wagenbetreibern. Der Vorteil einer supranationalen Vereinbarung ohne Gesetzescharakter besteht darin, dass sie sich schnell und unkompliziert ergänzen oder anpassen lässt. Die Zuläufe zur NEAT sind das beste Beispiel dafür, was nicht passieren sollte: Die Bahnstaatengemeinschaft inklusive Schweiz hat sich verpflichtet, die Nord-Süd-Achse auszubauen. Als die Schweiz den NEAT-Tunnel eröffnete, hatten andere Staaten noch nicht einmal mit der Planung begonnen. Ein Masterplan für den europäischen Güterverkehr könnte diese Absicht verbindlicher ausgestalten und klarstellen, dass Green Deal und Verlagerungsziele ernst gemeint sind. Heute ist er noch Zukunftsmusik. Den Grundforderungen stimmen meistens alle zu. Sobald es dann aber darum geht, etwas Konkretes aus einem Guss zu erarbeiten, divergieren die Meinungen auseinander.
Was meinen Sie zum bundesrätlichen Bericht zum ‹Schienengüterverkehr in der Fläche›? Was würde es bedeuten, wenn der Bundesrat diesen abschaffte?
Das wäre meiner Meinung nach der grösste verkehrspolitische Fehler seit Jahrzehnten. Die Schweiz beweist, dass Wagenladungsverkehr funktioniert. Allerdings ist er noch zu teuer. Wenn jedoch Zugbildung und ‑trennung automatisch erfolgen, die Zugreihe digital gesteuert wird und der Markt von den vielen Vorteilen digitaler Angebote profitiert, dann werden auch die Kosten sinken – und der Bedarf an Subventionen wird zurückgehen. Der Bundesrat sollte darüber nachdenken, wie sich die Angebote für Güterbahnkunden attraktiver gestalten lassen. Das Ganze abzubrechen, noch bevor die Digitalisierung Früchte trägt, wäre sträflich. Bahnfracht auf LKWs umladen kostet auch Geld und nicht jede Fracht lässt sich für Ganzzüge containerisieren. In diesem Thema müsste sich die Schweizer Regierung meiner Ansicht nach zuversichtlicher zeigen. Wer keinen Mut hat, hat schon verloren.
Wir vom VAP sind Mitglied der UIP. Wie würden Sie den VAP beschreiben?
Er ist ein wertvoller Mitgliedsverband unserer europäischen Waggonhalterfamilie. Ich nehme ihn als innovativ und meinungsstark wahr. Aufgrund seiner einzigartigen Mitgliederstruktur hat er bei uns ein besonderes Gewicht. Der VAP vertritt nicht nur die fünf grössten Schweizer Wagenhalter, sondern die Interessen von Verladern, Gleisanschliessern und Vertretern multimodaler Logistikketten. Diese Vielfalt erzeugt bei uns Wirkung und Ideenreichtum, ich erachte sie als wertvolle Stärke. Mit seiner Mitgliederdiversität kann der VAP seine Forderungen ganzheitlicher auf die Nutzer ausrichten und mit einer grösseren Autorität platzieren. Ich unterstütze den kundenzentrierten Ansatz des VAP, der den Endnutzer in den Diskussions- und Entscheidungsprozess einbindet. Europa kann von den Schweizer Erfahrungen mit dem Wagenladungsverkehr oder der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe profitieren. Sie gilt für uns oft als «Minilab», das Themen für uns spiegelt. Im Weiteren zeigt uns der VAP vorbildlich auf, wie man die Bevölkerung überzeugt oder etwas als Gemeinwesen positiv gestaltet.
Was kann der VAP besser machen?
Besser geht immer. Mein Appell ist nicht nur an den VAP, sondern an alle Verbände und verkehrspolitisch Involvierten gerichtet. Wir brauchen engagierte Menschen, die bereit sind, Interessen mit Sicht nach vorne zu formulieren. Solche, die in Quartalsbilanzen denken, gibt es genug. Aber damit kann man die Zukunft nicht gewinnen.
Was wünschen Sie sich für ebendiese Zukunft?
Noch mehr Interesse, mehr Zuversicht. Mehr Begeisterung. Verlader sollten darauf brennen, noch mehr Tonnen auf die Schiene zu bringen. Nur so können wir die ambitionierten Verlagerungs- und Klimaziele erreichen. Der Bevölkerung sollte klar sein, wie wichtig der Schienengüterverkehr ist – und dass das Geld kostet. Eine ungehemmte LKW-Flut ist nämlich keine Alternative. Ich wünsche mir, dass Sie vom VAP und wir von der UIP weiterhin Tag für Tag für diesen Aufbruch eintreten.
Herr Dr. Fischer, vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.
Dr. Heiko Fischer Dr. Heiko Fischer war bis 2021 insgesamt mehr als 25 Jahre in den Diensten der VTG tätig, davon über 17 Jahre als Vorsitzender des Vorstands. Seit 2015 ist er – wie schon von 2004 bis 2007 – Präsident des Dachverbands der Waggonhalter UIP, International Union of Wagon Keepers UIP mit Sitz in Brüssel. Diese vertritt mehr als 250 Güterwagenhalter und Instandhaltungsstellen mit mehr als 223’000 Güterwagen, die 50% der Tonnenkilometer im europäischen Schienengüterverkehr zurücklegen. Dr. Heiko Fischers ehemalige Arbeitgeberin VTG AG betreibt die grösste private Güterwagenflotte in Europa mit rund 88’500 Eisenbahngüterwagen. Neben der Vermietung von Güterwagen und Tankcontainern bietet VTG multimodale Logistikdienstleistungen und integrierte Digitallösungen an. |