Der Güterbahnunfall im Gotthardbasistunnel hat Haftungsfragen aufgeworfen, die der Bundesrat sowieso traktandiert hat. In seiner Sitzung vom 21. Juni 2023 hat er einen Bericht über Handlungsoptionen zur Verschärfung der Haftpflichtbestimmungen im Schienengüterverkehr verabschiedet. Wie diese aussehen und was wir davon halten, erfahren Sie in diesem Blogartikel.
Darum geht’s:
- Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) haften verschuldensunabhängig
- Der Bundesrat schlägt vier Handlungsoptionen vor – mit Vor- und Nachteilen
- Wir meinen: Verantwortlichkeiten und Kontrollen sind ausreichend geregelt
- Akteure nehmen ihre Verantwortung wahr, auch ohne neue Bestimmungen
Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) haften verschuldensunabhängig
Derzeit müssen EVU grundsätzlich unabhängig von einem eigenen Verschulden für den Schaden bei Unfällen mit Güterzügen auf dem Schweizer Schienennetz aufkommen. Man spricht von Gefährdungshaftung. Das gilt nicht, wenn der Schaden durch Mängel an einem fremden Güterwagen verursacht wurde. In diesem Fall geht man vertraglich vom Verschulden des betroffenen Wagenhalters aus. Der Halter kann sich von dieser Haftung nur befreien, wenn er fehlendes Verschulden nachweisen kann. Im Juristenjargon nennt sich das Umkehr der Beweislast.
Der Bundesrat schlägt vier Handlungsoptionen vor – mit Vor- und Nachteilen
Mit seinem Bericht vom 21. Juni 2023 leistet der Bundesrat dem Postulat 20.4259 «Gesamtschau zur Haftpflicht im Gütertransport auf der Schiene» Folge. Dieses war durch die Motion 20.3084 «Regelungen der Haftpflicht im Gütertransport auf der Schiene klären» von Frédéric Borloz zustande gekommen (vgl. VAP-Blogbeitrag «Motion Borloz»). Im Rahmen seiner Gesamtschau präsentiert der Bundesrat dem Parlament vier Handlungsoptionen:
- Die Gefährdungshaftung der EVU auch auf Fälle ausdehnen, in denen nicht das charakteristische Risiko des Bahnbetriebs ursächlich war. Damit geht die Erhöhung der Mindestversicherungssumme der EVU einher.
- Die EVU verpflichten, eine ausreichende Haftpflichtversicherung abzuschliessen, die auch Schäden von Gefahrguttransporten abdeckt. Dabei würde weder die Gefährdungshaftung der EVU noch diejenige der Fahrzeughalter ausgedehnt.
- Verschuldensunabhängige Haftung der Wagenhalter für Schäden einführen, die nachweislich von ihren Fahrzeugen oder deren Ladung verursacht oder mitverursacht wurden, z.B. bei einem Austritt von Gefahrgut aus einem abgestellten Wagen. Demnach wären die Wagenhalter verpflichtet, eine ausreichende Haftpflichtversicherung dafür abzuschliessen.
- Das bestehende Regulativ beibehalten.
Der Bundesrat weist darauf hin, dass jede Option Vor- und Nachteile mit sich bringt. Er sieht keinen zwingenden Bedarf für eine Regulierung in diesem Zusammenhang. Trotzdem zeigt er sich bereit, bestimmte Varianten auf Wunsch des Parlaments zu vertiefen.
Wir meinen: Verantwortlichkeiten und Kontrollen sind ausreichend geregelt
Als Verband der verladenden Wirtschaft sind wir der Ansicht, dass die Verantwortlichkeiten und Kontrollen völkerrechtlich und international vertraglich bereits klar geregelt sind. Die internationalen Beförderungsbestimmungen – bekannt unter dem Titel «Allgemeiner Vertrag für die Verwendung von Güterwagen (AVV)» – zwischen über 750 EVU und den Wagenhaltern erfüllen in ihrer aktualisierten Fassung von 2017 bereits die vom Bundesrat dargestellte Option 3 einer Haftungsverschärfung zulasten der Wagenhalter. Gemäss AVV haften Letztere bei Mängeln an ihren Wagen, sofern sie fehlendes Verschulden nicht nachweisen können.
Akteure nehmen ihre Verantwortung wahr, auch ohne neue Bestimmungen
Wagenhalter, die unserem Verband angehören, verfügen unter dem aktuell gültigen Haftungsregime über weitreichende Versicherungsdeckungen, da sie für die Instandhaltung ihrer Wagen verantwortlich sind. Die Einführung einer zusätzlichen gesetzlichen Versicherungspflicht oder einer Gefährdungshaftung für in der Schweiz verkehrende Güterwagen würde den freizügigen Einsatz der ausländischen Güterwagen (sowohl privater als auch derjenigen von EVU) massiv beeinträchtigen. Damit verbunden wäre ein gewaltiger Verlust an Flexibilität im internationalen Gütertransport sowohl im Import/Export als insbesondere auch im Transit. Wir werden das Thema weiterhin aufmerksam verfolgen und über die aktuellen Entwicklungen berichten.