Am 10. August 2023 ist ein Güterzug im Gotthardbasistunnel entgleist. Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) geht von einem Radscheibenbruch aus. Wir vom VAP werden das Ereignis systematisch und risikoorientiert aufarbeiten.
Darum geht’s:
- Notfallkonzept funktioniert, Versorgung sichergestellt
- Bewährtes Verantwortungsdreieck
- Sicherheitsstandards erfüllt
- Rechtsbeziehungen umfassend geregelt
- Bruchschäden sind selten, aber nicht ausgeschlossen
- Verlagerungsziel weiterverfolgen
Notfallkonzepte funktionieren
Dank weiterentwickelter Notfallkonzepte haben die Schlüsselakteure nach dem Unfall schnell und angemessen reagiert: Die Güterversorgung ist sichergestellt, Güter- und Personenwagen rollen wieder aus. Die Notfallkonzepte der Güterbahnen mit Umleiterverkehren auf dem Transitkorridor haben sich bewährt. Die Lehren aus Rastatt sind gezogen, die Branche ist auf den Ernstfall vorbereitet.
Bewährtes Verantwortungsdreieck
Das Güterbahnsystem basiert auf dem gleichberechtigten Zusammenspiel von Infrastrukturbetreiber (im Gotthardbasistunnel: SBB) und Eisenbahnverkehrsunternehmen (Güterbahnen) sowie weiteren Akteuren wie Wagenhaltern, die den sicheren Betrieb des Eisenbahnsystems potenziell beeinflussen. Alle Involvierten verfügen über hochwertige Sicherheitssysteme und wenden dieselben europäischen Vorschriften zu den Schnittstellen zwischen den Akteuren an.
Sicherheitsstandards erfüllt
Nach dem aktuellen Informationsstand haben alle Akteure die sicherheitstechnischen Standards und Methoden eingehalten. Züge, die durch das Südportal in den Gotthardbasistunnel fahren, werden zuletzt bei Claro (TI) durch automatische Zugkontrolleinrichtungen geprüft. Gemäss den vorliegenden Daten ist der entgleiste Zug einwandfrei in den Tunnel eingefahren. Die Wagenhalter und ihre Entity in Charge of Maintenance (ECM, zu Deutsch: «für die Instandhaltung zuständige Stelle») sind verantwortlich für die Instandhaltung und den sicheren Betriebszustand der Wagen bei Übergabe an die Güterbahn. Dabei definiert die ECM, die von unabhängigen Stellen zertifiziert wird, Instandhaltungsmassnahmen und sorgt für deren Umsetzung und Dokumentation nach den sicherheitstechnischen Normen und Methoden.
Rechtsbeziehungen umfassend geregelt
Wagenhalter stellen ihre Wagen den Güterbahnen zur Nutzung zur Verfügung. Die Güterbahnen ihrerseits nutzen die Netze der Infrastrukturbetreiber. Sämtliche Nutzungsverhältnisse sind hierzulande und international vertraglich einheitlich geregelt. Für das Verhältnis zwischen Güterbahnen und Wagenhaltern verweist das Schweizer Gütertransportgesetz (GüTG) in Art. 20 auf das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF). Über 770 Güterbahnen und Wagenhalter in Europa haben auf Basis dieses völkerrechtlichen Übereinkommens seit 2006 mit dem Allgemeinen Wagenverwendungsvertrag (AVV) zusätzlich einen multilateralen Vertrag geschaffen, der die Rechtsbeziehung zwischen Wagenhaltern und Güterbahnen detailliert regelt.
Bruchschäden sind selten – aber nicht ausgeschlossen
Wie es zur Entgleisung kam, ist derzeit noch unklar und wird von der Sust weiter untersucht. In der anstehenden Unfallaufarbeitung müssen nun die Ursache, Haftungs- und Verantwortungsfragen sowie aktuelle Sicherheitsdispositive geklärt werden. Brüche an Radscheiben treten sehr selten auf. In diesem Fall sind sowohl ein äusserer Einfluss als auch eine Materialermüdung möglich. Bruchschäden an betriebskritischen Teilen wie Schienen oder Radscheiben sind äusserst schwierig vorhersehbar und haben vielfältige Ursachen. Deren präventive Instandhaltung mit regelmässigen Kontrollen ist Standard, kann aber an ihre Grenzen stossen. In der Schweiz sind flächendeckend Zug-/Wagenkontrollen durch Güterbahnen und die Infrastrukturbetreiber sowie Kontrollen durch über 250 Zugkontrolleinrichtungen fest etabliert.
Verlagerungsziel weiterverfolgen
Wie umfassend die Auswirkungen eines derartigen Ereignisses auf das gesamte Verkehrssystem und wie hoch der Schaden sein können, steht ausser Frage. Deshalb pflegen wir in der Branchen-Arbeitsgruppe «IG Sicherheit», mit unserem jährlichen ECM-Erfahrungsaustausch und gemeinsam mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) eine enge Kooperation mit allen relevanten Akteuren des Schienengüterverkehrs, um den Stand der Technik laufend weiterzuentwickeln und das schon sehr hohe Sicherheitsniveau noch weiter zu verbessern. Wir regen an, die anstehenden Fragen und Massnahmen auf der Grundlage des Sust-Berichtes anzugehen. Nur so lässt sich die Gefahr eines erneuten Unfalls weiter verringern und gleichzeitig das in der Verfassung festgeschriebene Verlagerungsziel für den alpenquerenden Güterverkehr weiterverfolgen. Umso wichtiger ist es, dass der Gotthardbasistunnel so bald als möglich wieder befahren werden kann – gerade im Hinblick auf das Wiederanlaufen der italienischen Wirtschaft nach der Sommerpause. Ansonsten ist die Alternative über den verfügbaren und flexiblen Strassentransport unumgänglich. Dazu bieten wir gemeinsam mit unseren Mitgliedern und Branchenpartnern Hand, die Umleiterverkehre und Umkonzeption der Kompositionen effizient zu organisieren.