Die Schiene ist nicht gerade berühmt für ihre Erneuerungsfreudigkeit. Das muss und wird sich ändern, wenn sie als Verkehrsträger zukunftsfähig bleiben will. Am 7. Internationalen Eisenbahn-Forum IRFC 2022 präsentierten die Experten einen breiten Fächer an Initiativen, Innovationen und Neuordnungen. Die wichtigsten haben wir hier kurzgefasst und kritisch gewürdigt.
Darum geht’s:
- Zur Umsetzung des Green Deal braucht es Innovation, neue Technologien und eine umfassende Modernisierung des Bahnsektors
- Die Skalierbarkeit von Innovationen gelingt nur mit Kooperation und Koordination
- Die Schweiz darf den Anschluss an EU-Innovationsprogramme nicht verpassen
Unter der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft lud der EU-Verkehrsminister vom 5. bis 7. Oktober 2022 zur IRFC nach Prag ein. Der Kongress stand unter dem Motto: «Gemeinsam eine neue Generation von Eisenbahnen bauen». Der tschechische Verkehrsminister Martin Kupka betonte die Schlüsselrolle der Bahn für die erfolgreiche Umsetzung des Green Deal. Mit diesem hat die EU eine klare Antwort auf den fortschreitenden Klimawandel definiert. Bis 2050 sollen Verkehr und Transport in Europa CO2-neutral werden. Mit den Klimazielen 2050 strebt der Bundesrat in der Schweiz die Ablösung von fossilen Energieträgern in einem vergleichbaren Zeitrahmen an. Seit ein paar Jahren zeichnet sich im Bahnsektor ein Paradigmenwechsel ab. Die Politik setzt terminierte Ziele und erteilt den Sparten konkrete Aufträge. Damit die europäischen Bahnen gemäss den Aufträgen reagieren können, braucht es mehr Zusammenarbeit in der Weiterentwicklung neuer Technologien und deren Umsetzung. Die technische Säule des 4. Bahnpakets bildet die Grundlage für die Schaffung des geplanten einheitlichen europäischen Bahnsystems.
Bis neue Technologien ihre Anwendungsreife erreicht haben, braucht es zunächst eine Koordination der Innovation (vgl. Abbildung) und eine gezielte Forschung zur Erarbeitung der wissenschaftlichen Grundlagen. Dazu hat die EU in den vergangenen Jahren leistungsfähige und kompetente Organisationen aufgebaut: Das Programm «Horizon» führt und finanziert diverse Forschungsprojekte. Dank branchenübergreifender Vernetzung sollen die Ergebnisse und Resultate zeitnah einem breiten Nutzungsfeld zur Verfügung stehen. Im Rahmen der Innovationspartnerschaft Europe’s Rail Joint Undertaking (EU-Rail) werden innovative neue Ansätze auf Grundlage von Forschungsergebnissen konkretisiert. Die wichtigen Projekte für den Bahnbetrieb beziehungsweise für die Technik basieren auf den beiden Säulen «System Pillar» und «Technical Pillar». Die Eisenbahnagentur ERA definiert die neuen einheitlichen Spezifikationen für europäische Bahnanwendungen und stellt so die Interoperabilität sicher. Dank dieser Wissensbündelung lassen sich in kurzer Zeit international anwendungsreife Lösungen erarbeiten.
Energie der Zukunft ist erneuerbar
Industrialisierte Volkswirtschaften nutzten bisher hauptsächlich fossile Energieträger. Diese waren auf dem internationalen Markt lange günstig erhältlich. Mit dem Green Deal will die EU die verkehrsbedingten Emissionen bis 2050 um 90% reduzieren und 75% des Transportvolumens von der Strasse auf die Schiene oder Wasserstrassen verlagern. Die künftig wichtigen Energieträger sind Wasserstoff und Elektrizität, beides hergestellt aus erneuerbaren Ressourcen.
Moderne Datenkommunikation erfolgt digital
Industrialisierte Prozesse funktionieren dann erfolgreich, wenn die notwendigen Daten für alle Beteiligten direkt und unmittelbar verfügbar sind. Die aktuelle Datennutzung ist noch eingeschränkt, für viele Teilprozesse werden die Daten immer wieder neu erfasst. Solche Alleingänge sind ressourcen- und zeitintensiv sowie fehleranfällig. In Zukunft sollen Daten allen autorisierten Teilnehmern medienbruchfrei und zeitnah zur Verfügung stehen. Der direkte Zugriff auf Daten ist zentral für die Realisierung von automatisierten Prozessen, ebenso ein wirksamer Datenschutz. Cybersicherheit wird zum Kernthema der modernen Datenkommunikation.
Neuordnung des Bahnsystems gefragt
Die Bahn war im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wesentlich für die Industrialisierung. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts drängten Strasse und Luftfahrt dank ihren erfolgreichen Innovationsschritten die Schiene im Transport zurück. Entscheidend dabei waren der intramodale Wettbewerb und die rigorose Kundenorientierung. Die wichtigste Frage der Kunden lautete: Wie können wir unsere Bedürfnisse einfacher, bequemer und günstiger erfüllen? Und sie erhielten auf der Strasse passende Antworten. Diese Frage müssen sich die Bahnen heute endlich auch stellen. Die Bahn stellt ein leistungsfähiges und ressourcenschonendes Transportsystem mit zahlreichen Vorteilen dar. Im direkten Vergleich des benötigten Energiebedarfs schneidet die elektrifizierte Bahn gegenüber der Strasse als eindeutige Siegerin ab. Die Bahn benötigt bei gleichen Rahmenbedingungen 10-mal weniger Energie als die Strasse. Wichtige europäische Bahnstrecken sind bereits elektrifiziert, sodass die benötigte Traktionsenergie mit hohem Wirkungsgrad genutzt werden kann. Ein weit verzweigtes Streckennetz verbindet heute die wichtigen Regionen Europas, ein Grossteil der Strecken sind normalspurig, nur in wenigen europäischen Regionen sind heute abweichende Spurweiten in Betrieb. Damit die geplante Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene tatsächlich realisiert werden kann, braucht es zunächst einen Kulturwandel bei den Bahnen hin zu intramodalem Wettbewerb und Kundenorientierung sowie eine umfassende und systematische Erneuerung des Bahnsystems:
- TEN‑T: Die EU hat das transeuropäische Schienennetz zur Verbindung aller bedeutenden europäischen Zentren definiert. Auf einer einheitlichen, harmonisierten Infrastruktur sollen die Züge hindernisfrei verkehren können, auf Nebenstrecken kann Wasserstoff- oder Batteriebetrieb für die angestrebte CO2-Neutralität sorgen. Der Ausbau des Bahnnetzes erfolgt mit zwei unterschiedlichen Schwergewichten: Für den Personenverkehr ist ein Hochgeschwindigkeitsnetz aufzubauen, das die wichtigen Zentren verbindet und attraktive Reisezeiten ermöglicht. Für den Güterverkehr sind die erforderlichen Trassen bereitzustellen, sodass der Bahngüterverkehr gemäss den politischen Vorgaben wachsen kann. Die Güterbahnen müssen in den nächsten Jahrzehnten ihre Transportkapazität mehr als verdoppeln. Dieses hochgesteckte Ziel können sie nur mithilfe von Innovation erreichen. Zudem müssen die Korridormanager mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet werden, damit die heutige Rosinenpickerei der nationalen integriert geführten Staatsbahnen ein Ende hat.
- Interoperabilität und Standardisierung: Noch gilt bei den verschiedenen europäischen Bahnsystemen eine Vielzahl von oft unterschiedlichen nationalen Vorschriften. Deren Einhaltung schränkt den freizügigen grenzüberschreitenden Bahnverkehr bis heute signifikant ein und ermöglicht unlautere Wettbewerbsvorteile im nationalen Markt. Trotz der technischen Spezifikationen der Interoperabilität (TSI) behindern nationale Vorschriften immer noch den grenzüberschreitenden Verkehr massiv. Die EU hat die Beseitigung dieser nationalen Vorschriften mit dem «rules cleaning-up programme» zu einer wichtigen Führungsaufgabe erkoren. Dies ist ein entscheidendes Programm der technischen Säule des 4. EU-Bahnpakets zur Schaffung der Single European Railway Area (SERA). Während die Europäische Eisenbahnagentur ERA für die Weiterentwicklung der Technischen Spezifikationen der Interoperabilität (TSI) verantwortlich ist, muss der Bahnsektor die dazugehörigen Standards und Normen aktualisieren und weiterentwickeln. Im angestrebten Idealfall sollen die TSI und die Normen alle bahntechnischen Teilsysteme in allen beteiligten europäischen Ländern ausreichend spezifizieren. Auch die Schweiz setzt im Normalspurbereich konsequent auf die TSI. Sie hat im Rahmen des geltenden Landverkehrsabkommens erste Elemente der technischen Säule des 4. EU-Bahnpakets übernommen. Da der Dialog zwischen der EU und der Schweiz derzeit stillsteht, ist die geplante Weiterführung aktuell leider nicht möglich.
- Digitale automatische Kupplung (DAK): Die Bahn muss ihre historisch gewachsenen, aber überalterten Standards wie die klassische Schraubenkupplung zugunsten moderner digitalisierter Systeme – etwa der DAK4 – flächendeckend ablösen. Dies bildet eine entscheidende Grundlage für eine künftige umfassende Automatisation im Bahnsektor. Noch wichtiger aber ist die Vernetzung aller Akteure entlang der gesamten Logistikkette – über den reinen Schienenlauf hinaus – dank der Möglichkeiten der Digitalisierung. Frei zugängliche Daten- und Buchungsplattformen eröffnen ungeahnte Effizienzsteigerungen und Qualitätsverbesserungen. Auch die Mitglieder des VAP und die SBB tragen mit ihrem Know-how aktiv zum Gelingen dieses wichtigen Projekts bei.
- Energie: Beim Thema Energie werden die erforderlichen Prozesse zu der CO2-neutralen Gewinnung, der Verteilung und der einfachen Nutzung von Wasserstoff bearbeitet. Für den Betrieb auf längeren nicht elektrifizierten Bahnstrecken bildet Wasserstoff eine vielversprechende Energiequelle, um rasch fossile Treibstoffe abzulösen.
Marathon mit Hürden
Die EU hat mit dem Green Deal ein umfassendes Programm zur Gestaltung eines CO2-neutralen Europas definiert. Allerdings haben die Mitgliedländer unterschiedliche Ausgangslagen, Prioritäten und Interessen. Für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Programmes werden folglich einige Hürden zu überwinden sein. Es wird sich zeigen, ob die nationalen Interessen der Staatsbahnen zugunsten einer gemeinsamen europäischen Lösung genügend zurücktreten können. Die Bahn soll im europäischen Personenverkehr und Gütertransport künftig eine Schlüsselrolle spielen. Sie überzeugt durch einige bestechende Vorteile. Aber sie muss auch eine über viele Jahrzehnte entstandene Abneigung gegen Erneuerungen, Veränderungen und Wettbewerb überwinden. Die Abschottung der Märkte, insbesondere durch die Staatsbahnen, bildet nach wie vor vielerorts ein grosses Hindernis. Durch das Festhalten an nationalen Vorschriften, oft unter dem Vorwand von Sicherheitsüberlegungen, wollen sich Staatsbahnen weiterhin vor unerwünschter internationaler Konkurrenz schützen. Es liegt an den Mitgliedstaaten, der europäischen Idee zum Durchbruch zu verhelfen und unlauteren Methoden ihrer Staatsbahnen den Riegel zu stossen. Der Bahnsektor muss mit Innovation neue Standards setzen. Er muss seine Vorschriftenwelt international vereinheitlichen und entschlacken. Grosse Lieferanten des Bahnsektors dürfen bei der Entwicklung neuer Systeme nicht versuchen, sich durch exklusive, inkompatible Produkte einen einseitigen Marktvorteil zu verschaffen. Für einen nachhaltigen Migrationserfolg benötigt der Sektor kompatible, ausgereifte und zuverlässige innovative Produkte. Damit haben sich die Hersteller in den vergangenen Jahren nicht gerade ausgezeichnet. Ob die angestrebte Verlagerung der Verkehre auf die Schiene im geplanten Umfang machbar wird, hängt von den einsetzbaren Finanzmitteln ab. Es wird für die Migration keine prall gefüllte EU-Geldschatulle dastehen, aus der sich die einzelnen Unternehmen nach Bedarf bedienen können. Die einzelnen Mitgliedstaaten werden hier mit kräftigen Anschubfinanzierungen zur Erneuerung und Erweiterung der Bahninfrastruktur beitragen müssen. Das gilt auch für die Schweiz. Kernprojekte wie die DAK müssen international abgestimmt sein, sonst wird ihre Wirkung sang- und klanglos verpuffen.
Schweiz ist Teil von Europa
Auch die Schweiz kann mit einer aktiven Beteiligung an diesen EU-Programmen nur gewinnen. Das Schweizer Normalspurnetz trägt mit seinen grossen Transitachsen zum transeuropäischen Schienennetz der EU bei. Es bildet einen wichtigen Teil des einheitlichen interoperablen europäischen Systems SERA. Da viele der Schweizer Verkehre grenzüberschreitend geführt werden, sind interoperable Lösungen unabdingbar. Die Schweiz hat ihr Plansoll mit dem durchgehenden Ausbau der Nord-Süd-Transversalen wie angesagt erfüllt. Das Schweizer Bahnnetz muss für den Binnenverkehr weiter ausgebaut werden, um das Wachstumsziel im Güterverkehr Zukunft bewältigen zu können. Unsere Experten können aktiv wertvolle Entwicklungsbeiträge leisten und sich mit den Besten international messen. Unsere Bahnunternehmen können mit neuen Konzepten ihre Marktposition, insbesondere auch im Import- und Exportverkehr stärken. Der VAP unterstützt die gemeinsamen Aktivitäten, um den Bahnsektor zu einem wichtigen Partner des multimodalen Transportsystems weiterzuentwickeln. Dabei ist die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene und intramodaler Wettbewerb eine entscheidende Voraussetzung, um die politischen Ziele fristgerecht zu erreichen. Wir sind verkehrstechnisch so eng mit den Nachbarstaaten verknüpft, dass unsere Wirtschaft hindernisfreie grenzüberschreitende Verkehrs- und Transportleistungen braucht. Gerade für grössere Distanzen ist aus Energiesicht die Schiene prädestiniert. Die politischen Differenzen zwischen der Schweiz und der EU behindern nach wie vor die dringend notwendige internationale Zusammenarbeit. Die Bahnbranche ist gut beraten, trotz der Hürden den fachlichen Austausch aktiv zu suchen und zu pflegen. Eine erfolgreiche Bahnzukunft haben wir nur gemeinsam.