Hin­der­nis­frei über die Grenzen

Die Euro­päi­sche Union (EU) strebt mit der tech­ni­schen Säule des 4. Bahn­pa­kets eine zügi­ge und nach­hal­ti­ge Har­mo­ni­sie­rung im inter­na­tio­na­len Nor­mal­spur­ver­kehr an, damit der grenz­über­schrei­ten­de Schie­nen­ver­kehr hin­der­nis­frei ablau­fen kann. Die Mit­glied­staa­ten sol­len die Inter­ope­ra­bi­li­täts-Stan­dards kon­se­quent anwen­den und die ent­spre­chen­den Zulas­sungs­ver­fah­ren anpas­sen. Grund­la­ge für diese Ver­ein­heit­li­chung bil­den die Richt­li­nie über die Inter­ope­ra­bi­li­tät des Eisen­bahn­sys­tems in der Euro­päi­schen Union und die Tech­ni­schen Spe­zi­fi­ka­tio­nen für die Inter­ope­ra­bi­li­tät (TSI) für die Teil­sys­te­me (Infra­struk­tur, Ener­gie, Zugsteuerung/Zugsicherung und Signal­ge­bung, Betriebs­füh­rung und Ver­kehrs­steue­rung, Instand­hal­tung und Tele­ma­tik­an­wen­dun­gen). Die Schweiz über­nimmt die Ele­men­te der tech­ni­schen Säule des 4. Bahn­pa­kets in Teilschritten.

Was bis­her geschah

Die Zulas­sungs­ver­fah­ren lagen lange Jahre in der Zustän­dig­keit der natio­na­len Behör­den. 2015 kam die Gene­ral­di­rek­ti­on Mobi­li­tät und Ver­kehr (MOVE) der EU-Kom­mis­si­on zum Schluss, dass die Stoss­rich­tung der bereits umge­setz­ten Har­mo­ni­sie­rungs­mass­nah­men zwar stimmt, dass die Umset­zung der ein­heit­li­chen Vor­schrif­ten in den Mit­glied­staa­ten aber nur unter­schied­lich rasch vor­an­kommt und die natio­na­len Zulas­sungs­ver­fah­ren von Behör­de zu Behör­de trotz gemein­sa­mer Regeln immer noch stark von­ein­an­der abwei­chen. In der Folge beschloss die EU das 4. EU-Eisen­bahn­pa­ket. Seit dem 16. Juni 2019 ist die EU-Eisen­bahn­agen­tur (ERA) neu für das Ertei­len von ein­heit­li­chen Sicher­heits­be­schei­ni­gun­gen und Zulas­sun­gen von Roll­ma­te­ri­al für den grenz­über­schrei­ten­den Ver­kehr zustän­dig. Sie betreibt dazu das Online-Fahr­zeug­zu­las­sungs­por­tal «One Stop Shop». Bei den Prü­fun­gen der Zulas­sungs­dos­siers arbei­tet sie eng mit den natio­na­len Auf­sichts­be­hör­den zusam­men. Am 21.12.2021 teilt das BAV mit, dass die Zusam­men­ar­beit der Schweiz mit der Euro­päi­schen Agen­tur, im Zusam­men­hang mit der tech­ni­schen Säule des 4. Bahn­pa­kets – 1. Schritt – um ein wei­te­res Jahr bis Ende 2022 ver­län­gert wurde. Zur Medi­en­mit­tei­lung.

Drei Kern­ele­men­te

Mit der tech­ni­schen Säule will die EU-Kom­mis­si­on die erkann­ten Schwach­stel­len behe­ben und die Markt­po­si­ti­on des Bahn­sek­tors im hart umkämpf­ten Reise- und Trans­port­ge­schäft stär­ken (vgl. Abbil­dung 1). Das 4. EU-Bahn­pa­ket ent­hält drei wesent­li­che Elemente:

  1. Die anzu­wen­den­den Vor­schrif­ten sol­len in allen betei­lig­ten Staa­ten sys­te­ma­tisch har­mo­ni­siert wer­den. Dies geschieht durch insti­tu­tio­nel­le Inkraft­set­zungs­ver­fah­ren der TSI und deren Aktua­li­sie­run­gen. Damit sind von der EU-Kom­mis­si­on publi­zier­te TSI neu unmit­tel­bar in allen Staa­ten gül­tig; es braucht keine natio­na­len Umset­zungs­pro­zes­se mehr.
  2. Die Eisen­bahn­agen­tur ERA über­wacht neu den zeit­na­hen und voll­stän­di­gen Abbau von über­hol­ten natio­na­len Vor­schrif­ten durch die zustän­di­gen natio­na­len Aufsichtsbehörden.
  3. Die Eisen­bahn­agen­tur ERA koor­di­niert neu die Zulas­sungs­ver­fah­ren und ver­fügt zen­tral ein­heit­li­che, län­der­über­grei­fend gül­ti­ge Betriebsbewilligungen.

 

Von Som­mer 2019 bis Herbst 2020 pass­ten alle EU-Mit­glied­län­der ihre natio­na­len Vor­schrif­ten dem 4. Eisen­bahn­pa­ket an. Heute kann im «One Stop Shop» der ERA ein Antrag auf Zulas­sung gestellt und das ent­spre­chen­de Dos­sier ein­ge­reicht wer­den. Die ERA prüft unter Ein­be­zug der betei­lig­ten natio­na­len Auf­sichts­be­hör­den das Dos­sier und ver­fügt eine in allen bean­trag­ten Län­dern direkt gül­ti­ge Betriebsbewilligung.

Abbil­dung 1: Ele­men­te der tech­ni­schen Säule des 4. EU-Eisen­bahn­pa­kets im Überblick

Vor­tei­le überwiegen

Die Ver­ein­heit­li­chung der Stan­dards und die Zen­tra­li­sie­rung der Zulas­sungs­ver­fah­ren brin­gen wesent­li­che Vorteile:

  • Schlan­ke­re und inter­na­tio­nal ein­heit­li­che Regeln sor­gen bei der Spe­zi­fi­ka­ti­on von Teil­sys­te­men und der Nach­weis­füh­rung für Betriebs­be­wil­li­gun­gen für mehr Effi­zi­enz und Klarheit.
  • Die Trans­pa­renz zu Bear­bei­tungs­zei­ten und Bear­bei­tungs­ge­büh­ren steigt.
  • Eine inter­na­tio­nal gül­ti­ge Betriebs­be­wil­li­gung der ERA sorgt für rasche­re und plan­ba­re­re Zulassungsverfahren.
  • Es gibt neu keine mehr­fa­chen Ver­fah­ren mehr für Mehrländerzulassungen.
  • Für kom­ple­xe Pro­jek­te wie Mehr­sys­tem­trieb­fahr­zeu­ge sind die Ver­bes­se­run­gen nach kur­zer Ein­füh­rungs­zeit bereits deut­lich spürbar.

Bei den Zulas­sungs­ver­fah­ren für Stan­dard­gü­ter­wa­gen besteht noch Opti­mie­rungs­po­ten­zi­al. Denn der Vor­schrif­ten­um­fang ist hier enorm: Zahl­rei­che Vor­schrif­ten sind ver­al­tet und noch immer bestehen viele unter­schied­li­che natio­na­le Zusatzanforderungen.

Beschleu­nig­te natio­na­le Bereinigung

Die Berei­ni­gung der noch bestehen­den natio­na­len Vor­schrif­ten erfor­dert in allen Mit­glied­staa­ten umfang­rei­che Anpas­sun­gen. Sie wird schon bald zu einem deut­li­chen Abbau der nach­zu­wei­sen­den Regeln und der natio­na­len Unter­schie­de füh­ren. Ein­heit­li­che­re und aktu­el­le hoheit­li­che Vor­schrif­ten in allen euro­päi­schen Län­dern und eine län­der­über­grei­fend gül­ti­ge Zulas­sung sind eine Grund­vor­aus­set­zung dafür, dass der euro­päi­sche Schie­nen­ver­kehr in Zukunft signi­fi­kant gestärkt wird und dass sich zukunfts­fä­hi­ge Inno­va­tio­nen etablieren.

Schweiz zieht mit

Das Schwei­zer Nor­mal­spur­netz ist ein inte­grier­ter Bestand­teil des inter­ope­ra­blen euro­päi­schen Bahn­sys­tems. Auch wir sind an einem hin­der­nis­frei­en Schie­nen­ver­kehr über die Gren­zen hin­aus inter­es­siert. So strebt das Bun­des­amt für Ver­kehr (BAV) im Rah­men des Land­ver­kehrs­ab­kom­mens seit Jah­ren einen zweck­mäs­si­gen Nach­voll­zug der EU-Regeln für die Schweiz an. Auch bei uns bil­den die TSI heute die Grund­la­ge für die bahn­tech­nisch rele­van­ten Teil­sys­te­me im Normalspurbereich.

Zen­tra­le Schalt­stel­le in der Zusam­men­ar­beit EU-CH inner­halb des Land­ver­kehrs­ab­kom­mens ist der gemisch­te Aus­schuss. Die­ser tagt halb­jähr­lich, des­sen Beschlüs­se wer­den in den Anhän­gen zum Land­ver­kehrs­ab­kom­men fest­ge­legt und publiziert.

Im Dezem­ber 2019 hat die Schweiz einen ers­ten Teil der tech­ni­schen Säule des 4. Bahn­pa­kets über­nom­men. Er umfasst die aktu­ell gel­ten­den TSI sowie den Zugang zum «One Stop Shop» der ERA. Das BAV aner­kennt bereits heute die ERA-Prü­fun­gen zu den TSI-Nach­wei­sen ohne wei­te­re eige­ne Prü­fun­gen. Es beur­teilt ein­zig die Ein­hal­tung der natio­na­len Vor­schrif­ten. Damit sind Dop­pel­prü­fun­gen passé.

Die EU aner­kennt die­sen ers­ten Schritt der Über­nah­me ledig­lich als Über­gangs­lö­sung und macht deren Wei­ter­füh­rung vom Schwei­zer Umset­zungs­fort­schritt des gesam­ten Pakets abhän­gig. Wäh­rend die EU mit dem inhalt­li­chen Fort­schritt unse­rer Über­nah­me­ar­bei­ten zufrie­den ist, gefähr­den die poli­ti­schen Span­nun­gen zuneh­mend deren Weiterführung.

Aller­dings bleibt die Ver­fü­gungs­kom­pe­tenz beim BAV und es gilt wei­ter­hin der Rechts­weg gemäss Schwei­zer Gesetz­ge­bung. Aus gesetz­li­chen Grün­den kann die ERA für das Schwei­zer Ter­ri­to­ri­um aktu­ell keine Betriebs­be­wil­li­gung ver­fü­gen. Den­noch führt die inter­na­tio­na­le Har­mo­ni­sie­rung der Zulas­sungs­ver­fah­ren schon jetzt zu einer spür­ba­ren Ver­ein­fa­chung für die Antrag­stel­ler und meis­tens auch zu einer Beschleu­ni­gung der Zulassungsverfahren.

Revi­si­on der Eisenbahngesetzgebung

Würde die Schweiz die tech­ni­sche Säule des 4. EU-Bahn­pa­kets umfas­send über­neh­men, so könn­ten die Akteu­re der Schwei­zer Bahn­bran­che wei­ter pro­fi­tie­ren. Das BAV hat dazu eine sys­te­ma­ti­sche Revi­si­on des Eisen­bahn­ge­set­zes (EBG) sowie der rele­van­ten Ver­ord­nun­gen (ins­be­son­de­re der Eisen­bahn­ver­ord­nung EBV) auf den Weg gebracht, die Ver­nehm­las­sung wurde am 17. Dezem­ber eröff­net. Das Revi­si­ons­pa­ket bringt fol­gen­de Vor­tei­le: Zum einen bil­den Regel­wer­ke auf dem aktu­ells­ten Stand der Tech­nik die Vor­aus­set­zung für plan­ba­re Zulas­sungs­ver­fah­ren. Zum ande­ren kann das BAV dank schlan­ke­ren Inkraft­set­zungs­ver­fah­ren auf Stufe der Aus­füh­rungs­be­stim­mun­gen die tech­nisch-betrieb­li­chen Regeln künf­tig effi­zi­en­ter und zeit­na­her aktualisieren.

Grund­sätz­lich sol­len auch im Schwei­zer Nor­mal­spur­be­reich die inter­na­tio­nal har­mo­ni­sier­ten EU-Vor­ga­ben gel­ten. Soweit erfor­der­lich wer­den diese von natio­na­len Regeln ergänzt.

Anpas­sungs­pro­zess läuft

Das BAV führt den begon­ne­nen Abbau­pro­zess bis­he­ri­ger natio­na­ler Regeln kon­se­quent wei­ter und ent­schlackt dadurch die hoheit­li­chen Vor­schrif­ten. Bei den Zulas­sungs­ver­fah­ren sol­len künf­tig die ein­heit­li­chen ERA-Betriebs­be­wil­li­gun­gen ohne zusätz­li­che BAV-Ver­fü­gung für das Schwei­zer Nor­mal­spur­netz ausreichen.

Nach der Anhö­rung wer­tet das BAV die Rück­mel­dun­gen der Bran­che aus, ver­voll­stän­digt die Bot­schaft zur Geset­zes­an­pas­sung des EBG und legt diese dem Bun­des­rat zur Behand­lung im Par­la­ment vor. Die Revi­si­on des EBG und die Anpas­sung der EBV wer­den die Har­mo­ni­sie­rung der Regeln zwi­schen der EU und der Schweiz fort­set­zen. Aus­ser­dem soll das Land­ver­kehrs­ab­kom­men ange­passt wer­den. Dazu müs­sen sich die Schweiz und die EU auf poli­ti­scher Ebene einigen.

Inno­va­ti­ons­schub gefragt

Die tech­ni­sche Säule des 4. EU-Bahn­pa­kets ermög­licht künf­ti­ge Inno­va­tio­nen im Bahn­sek­tor – was die­ser drin­gend nötig hat, um auf dem markt­wirt­schaft­lich hart umkämpf­ten Trans­port­sek­tor auch in Zukunft als kon­kur­renz­fä­hi­ger Part­ner auf­zu­tre­ten. Unter der Lei­tung der EU-Kom­mis­si­on wur­den Spe­zi­fi­ka­ti­ons­ar­bei­ten in den Berei­chen Sys­tem (Sys­tem Pil­lar) und Inno­va­ti­on (Inno­va­ti­on Pil­lar) ange­stos­sen. Das Euro­pean Freight Digi­tal Auto­ma­tic Cou­pler Deli­very Pro­gram (EDDP) hat den Auf­trag, betriebs­rei­fe Lösun­gen zur Inno­va­ti­on des Güter­ver­kehrs zu erarbeiten.

Der ein­ge­schla­ge­ne Weg ist für eine zukunfts­ori­en­tier­te Wei­ter­ent­wick­lung des Bahn­sek­tors ent­schei­dend – in der EU genau­so wie in der Schweiz. Denn nur so haben Euro­pa und die Schweiz eine reel­le Chan­ce, die hohen poli­ti­schen Erwar­tun­gen in Bezug auf die ange­streb­te Ener­gie­wen­de in einem ver­nünf­ti­gen Zeit­rah­men zu erfüllen.

Bei­trag Teilen: