Gemäss der Hauptausgabe der SRF-Tagesschau vom 27. August 2023 sieht das Bundesamt für Verkehr (BAV) SBB Cargo allein für die Folgen des Güterbahnunfalls im Gotthardbasistunnel haftbar. Verwiesen wird auf ein Versäumnis der Bahnreform; davor mussten alle Güterwagen bei den Staatsbahnen eingestellt sein. Wir meinen: Es ist zu früh für Spekulationen, schon gar nicht in Medien mit landesweiten Reichweiten. Diese Polemik bringt die Lösung des Problems keinen Schritt weiter. Erst der Bericht der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) klärt Fakten – und schafft Möglichkeiten, gezielt zu reagieren.
Darum geht’s:
- Im Bahnmarkt behält der Staat die Oberhand
- Die Bahnreform hat Haftungsrecht tatsächlich reformiert
- Wagenhalter haften verschuldensunabhängig
- Bundesrat hat keine rechtlichen Anpassungen vorgeschlagen
- Vertragliche Bestimmungen sind öffentlich
- Verantwortung auf Basis des Sust-Berichts wahrnehmen
- Aktuelle Haftungsregelung ist wirtschaftlich ausgewogen
- Negative Folgen von Gesetzesanpassungen bedenken
Im Bahnmarkt behält der Staat die Oberhand
Der Bund sieht die Verantwortung für den Güterbahnunfall im Gotthardbasistunnel klar bei der SBB-Tochter SBB Cargo. Ein Sprecher des BAV liess in der SRF-Tagesschau vom 27. August 2023 verlauten, das geltende Haftpflichtrecht stamme aus der Zeit der Staatsbahnen. Nun: Die Zeiten haben sich nicht verändert. Noch immer dominiert die Staatsbahn SBB den Güterbahnmarkt. Vor wenigen Wochen hat der Bundesrat der Rückverstaatlichung von SBB Cargo zugestimmt. Als Antwort auf die Interpellation von FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen hat er klargestellt, die Privataktionäre hätten die (finanzielle) Situation der SBB Cargo nicht verbessert.
Die Bahnreform hat Haftungsrecht tatsächlich reformiert
Im Zug der Bahnreform erfolgte die Revision des internationalen Eisenbahnbeförderungsrechts Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF), wobei Infrastruktur und Betrieb getrennt wurden. Gleichzeitig kündigte SBB Cargo die Einstellverträge. Das Monopolprivileg, wonach Güterwagen bei einer Staatsbahn eingestellt sein und von ihr gewartet werden müssen, wurde damit abgeschafft. Stattdessen wurden die Nutzungsbedingungen für Güterwagen zwischen Güterbahnen und Wagenhaltern auf der Basis des COTIF international vereinheitlicht – bekannt unter dem Titel «Allgemeiner Vertrag für die Verwendung von Güterwagen (AVV)». COTIF und AVV sehen griffigere Haftungsregelungen vor, als dem BAV mit seinen Vorbehalten gegen international einheitliche Branchenlösungen lieb ist. Die böse Überraschung für Wagenhalter, als sie die volle Verantwortung für die künftige Wartung ihrer Wagen antraten: Die SBB übergaben den Wagenhaltern äusserst dürftige Dokumentationen zum Zustand und zur Wartung ihrer Güterwagen durch SBB Cargo bis zur Kündigung der Einstellverträge. Seither sind die Wagenhalter selbst für ihre Güterwagen verantwortlich und haben die Altlasten, die sie von SBB übernehmen mussten, aufgeräumt.
Wagenhalter haften bei Mängeln an ihren Wagen
Der BAV-Sprecher vermittelte mit seinem Kommentar in der SRF-Tagesschau den Eindruck, private Güterbahnen oder Halter von Güterwagen müssten für Unfallschäden nicht haften. Das stimmt nicht. Europäische und Schweizer Güterbahnen und Wagenhalter haften seit 2006, als der AVV ins Leben gerufen und 2017 verschärft wurde. Heute müssen Güterbahnen grundsätzlich unabhängig von einem eigenen Verschulden für den Schaden bei Unfällen mit Güterzügen auf dem Schweizer Schienennetz aufkommen (Gefährdungshaftung). Wurde der Schaden durch Mängel an einem fremden Güterwagen verursacht, geht man vertraglich vom Verschulden des betroffenen Wagenhalters aus. Die betroffene Güterbahn kann auf den Wagenhalter Regress nehmen. Dieser kann sich von der Haftung gegenüber der Güterbahn nur befreien, wenn er fehlendes Verschulden nachweisen kann (Umkehr der Beweislast). Mehr dazu lesen Sie in unserem Blogbeitrag «Gotthardbasistunnel (#3): Geltende Haftpflichtbestimmungen sind ausreichend».
Bundesrat hat keine rechtlichen Anpassungen vorgeschlagen
SRF-Redakteur Christoph Leisibach erläuterte, der Bundesrat habe in einem Bericht Massnahmen zur Anpassung des Haftungsrechts vorgeschlagen, zum Beispiel die Haftung der Wagenhalter zu verschärfen. Diese Aussage ist falsch. Der Bundesrat hat im BAV-Bericht vom 21. Juni 2023 zum Postulat 20.4259 «Gesamtschau zur Haftpflicht im Gütertransport auf der Schiene» Optionen präsentiert, aber auf eine Anpassung der Vorschriften explizit verzichtet.
Vertragliche Bestimmungen sind öffentlich
Professor Frédéric Krauskopf wurde von der SRF-Tagesschau als Experte befragt. Auf die Frage, ob SBB Cargo auf eine (Mit-)Haftung des Wagenhalters des beschädigten Güterwagens zurückgreifen könne, verwies Krauskopf auf das Vertragswerk zwischen den beiden Parteien. Es handelt sich wie oben erläutert um den AVV. Dieser Vertrag ist öffentlich publiziert, also auch Professoren und öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zugänglich. SBB Cargo hat dem AVV gemeinsam mit allen anderen Staatsbahnen in Europa einstimmig zugestimmt.
Verantwortung auf Basis des Sust-Berichts wahrnehmen
Mit der Frage, wer beim Güterbahnunglück vom 10. August 2023 welche Schuld trägt und wer welche Haftung übernehmen muss, setzen wir uns vom VAP intensiv auseinander. Um sie exakt und innert nützlicher Zeit zu beantworten, muss zuerst der Bericht der Sust vorliegen.
Aktuelle Haftungsregelung ist wirtschaftlich ausgewogen
Die Wagenhalter müssen dafür sorgen, dass ihre Wagen entsprechend den geltenden Gesetzen, Vorschriften und verbindlichen Normen zugelassen und instandgehalten werden. Die Güterbahnen übernehmen die Wagen im Vertrauen, dass der Wagenhalter diesen Pflichten nachgekommen ist. Sie führen alle erforderlichen Kontrollen durch, damit der Zug sicher fahren kann. Die Wagenhalter haben keinen Einfluss auf die Zugabfahrt. Die Güterbahnen entscheiden eigenständig über die Art und Weise der Kontrollen, da sie auch allein den sicheren Betrieb eines Zuges verantworten. Entsprechend ist es wirtschaftlich sinnvoll, die Güterbahnen für ihre Kontrollen vor der Zugabfahrt und für mögliche Folgen primär haften zu lassen. Erweist sich im Nachhinein ein Mangel am Wagen als Schadensursache (zum Beispiel ein Radscheibenbruch), haftet der Wagenhalter gegenüber der Güterbahn für den entstandenen Schaden. Es sei denn, er kann beweisen, dass er den Mangel nicht verschuldet hat (Umkehr der Beweislast). Exakt gleich ist die Haftung im Strassenverkehr zwischen Halter des Zugfahrzeugs und Halter des Sattelaufliegers oder Anhängers geregelt.
Negative Folgen von Gesetzesanpassungen bedenken
Eine Verschärfung der bereits hochgradig ausdetaillierten Haftungsbestimmungen macht weder den Schienengüterverkehr sicherer, noch bringt sie einen einzigen Güterzug mehr auf die Schiene. Im Gegenteil. Was auch immer an den Haftungsregelungen geändert wird, hat marktwirtschaftliche Auswirkungen, etwa in Form von höheren Mietpreisen für Güterwagen und vor allem von komplizierteren und aufwendigeren Übergaben von Wagen von einem Verantwortungsbereich in den nächsten. Dadurch könnte der heute durch den AVV garantierte freizügige Zugriff auf 550‘000 Güterwagen aus ganz Europa durch eine unüberlegte einseitige Gesetzesanpassung in der Schweiz plötzlich versiegen – zum Schaden von Umwelt und Wirtschaftsstandort Schweiz.