Das Joint Network Secretariat (JNS) der European Union Agency for Railways (ERA) hat Mitte Juli 2024 seinen Schlussbericht zum Unfall im Gotthardbasistunnel vom 10. August 2023 publiziert. Dieser enthält einen erweiterten Anwendungsbereich, eine erhöhte betriebliche Nutzungsgrenze, strengere Vorgaben für Risikokontrollmassnahmen und die Empfehlung der Klangprobe zur Prävention.
Darum geht’s:
- JNS Task Force veröffentlicht Schlussbericht und Folgeabschätzung
- 4 Kernpunkte für alle beteiligten Akteure: erweiterter Anwendungsbereich, höhere Nutzungsgrenze, vollständige Umsetzung der Risikokontrollmassnahmen, Klangprobe zur Prävention
- Anhänge 9 und 10 des Allgemeinen Wagenverwendungsvertrags anpassen
- Missverständnisse bei der Auslegung der Gesetzestexte verhindern
- Internationale Nachbearbeitung funktioniert gut
Die Arbeit des JNS zielt darauf ab, alle Massnahmen, die nach einem Unfall oder einer Störung im Eisenbahnverkehr der EU ergriffen werden, EU-weit zu harmonisieren (vgl. Blogbeitrag «Gotthardbasistunnel (#7): Sust-Bericht schafft Klarheit»). Das Gremium setzt sich aus Vertretern der ERA, der nationalen Aufsichtsbehörde (NSA) und der Group of Representative Bodies (GRB) in Vertretung der internationalen Eisenbahnverbände zusammen. Die ERA hat zudem die Kurzanalyse «Light Impact Assessment» als Folgeabschätzung zum Unfall im Gotthardbasistunnel mit Fokus auf das Thema «gebrochene Räder» veröffentlicht.
JNS-Schlussbericht enthält bisherige und neue Massnahmen
Die Diskussionen zwischen dem JNS und der Branche verliefen kooperativ. Sie führten zu einigen Kompromissen, um nationale Einzelmassnahmen zu vermeiden, die von mehreren NSAs angekündigt wurden. Nationale Sondervorschriften stellen die Interoperabilität und die von der EU und der Schweiz angepeilte Verkehrsverlagerung in Frage.
Die Ergebnisse des Schlussberichts basieren auf den Empfehlungen des JNS-Verfahrens «Gebrochene Räder» (2017– 2019) und dessen Abschlussbericht von 2019. Änderungen gegenüber dem damaligen Bericht sind gelb markiert. Die ergänzten und verbesserten Risikokontrollmassnahmen ersetzen vollständig diejenigen des JNS-Verfahrens für Radtypen BA 004 («Riss im Radkranz», 2017–2019). Die Massnahmen für einen «Riss in der Radscheibe» (Radtypen BA 314 alt/ZDB29) bleiben weiterhin gültig.
4 Kernpunkte für alle beteiligten Akteure
Die folgenden Aspekte sind für Güterwagenhalter und instandhaltende Stellen («Entity in Charge of Maintenance», kurz ECM) besonders relevant:
- Erweiterter Anwendungsbereich: Der Anwendungsbereich der Risikokontrollmassnahmen wurde ausgedehnt. Die Liste der betroffenen Radtypen umfasst neu: BA 004 (auch verwendet in einigen Versionen des Radsatztyps VRY), Db-004sa, BA 390, RI 025, R32, BA 304 und «andere vergleichbare Radtypen, die nicht Teil der JNS-Bewertung waren».
- Höhere Nutzungsgrenze: Die betriebliche Nutzungsgrenze (vgl. Kasten) für die betroffenen Radtypen hat sich von einem Durchmesser von 860 mm auf 864 mm erhöht.
- Vollständige Umsetzung der Risikokontrollmassnahmen: Für alle neu betroffenen Radtypen müssen alle beteiligten Akteure entweder die JNS-Risikokontrollmassnahmen vollständig umsetzen oder alternative Massnahmen ergreifen, die mindestens ein gleichwertiges Sicherheitsniveau gewährleisten und durch eine Risikoanalyse gemäss Anhang 1 der EU-Verordnung 402/2013 (CSM RA) begründet sind.
- Klangprobe zur Prävention: Als einfache Präventionsmassnahme zur Senkung von Risiken führt der JNS-Schlussbericht die Klangprobe auf. Wir sind der Ansicht, dass die Eisenbahnverkehrsunternehmen auf die Klangprobe bei Verdacht auf Überhitzung des Radsatzes und/oder bei Rissbildungen auf der Lauffläche oder am Radkranz im Rahmen der Wagenkontrolle vor Abfahrt nicht verzichten dürfen. Sie sollten sie in ihren Kontrollprozess vor der Abfahrt aufnehmen, falls das nicht schon geschehen ist.
Betriebliche Nutzungsgrenze Der Raddurchmesser wird vor der Abfahrt oder während der Zugvorbereitung nicht gemessen. Die betriebliche Nutzungsgrenze wird nach der Wartung definiert. Gemäss der ECM-Verordnung müssen ECMs die angemessene und sichere Wartungsgrenze für Räder festlegen, um zu verhindern, dass während des Betriebs ein Rad des betroffenen Typs unterhalb der betrieblichen Grenze von 864 mm verwendet wird. Aus den Diskussionen in der JNS Task Force wurde die allgemeine Wartungsgrenze von vorher 876 mm auf nun 880 mm nach der Radsatzprofilierung erhöht. Sollte ein ECM entscheiden, die Verwendung eines Rads mit einer Wartungsgrenze unterhalb von 880 mm nach dem Profilieren zuzulassen, muss es nachweisen, dass diese niedrigere Wartungsgrenze (1) mindestens das gleiche Sicherheitsniveau garantiert, (2) durch eine Risikoanalyse gemäss Anhang 1 der EU-Verordnung 402/2013 (CSM RA) gerechtfertigt ist und (3) die Risikoanalyse von einer unabhängigen Bewertungsstelle überprüft und genehmigt wurde, da ein Einbaugrenzmass unter 880 mm als «signifikante Änderung» gilt. |
Anhänge 9 und 10 des Allgemeinen Wagenverwendungsvertrags anpassen
An die Union Internationale des Chemins de fer (UIC), die European Rail Freight Association (ERFA) und die International Union of Wagon Keepers (UIP) als verantwortliche Herausgeber des Allgemeinen Wagenverwendungsvertrags (AVV) hat das JNS eine Empfehlung abgegeben: Die Gremien sollen die Ergänzung der Anhänge 9 und 10 des AVV prüfen, um die Erkennung thermisch überhitzter Räder in Zukunft noch systematischer und einheitlicher zu regeln.
Die Debatte im JNS hat gezeigt, dass sowohl die nationalen Aufsichtsbehörden einiger (EU-Mitglied-) Staaten als auch Eisenbahnverkehrsunternehmen Mühe mit der Integration der ECMs in ihre Tätigkeit bekunden. Das JNS empfiehlt daher den Branchenorganisationen klärende Gespräche zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission sowie die Veröffentlichung von Leitlinien für die Eisenbahnverkehrsunternehmen.
Missverständnisse bei der Auslegung der Gesetzestexte verhindern
Wir vom VAP werden uns gemeinsam mit der UIP mit der Rolle und Verantwortung der ECM im Kontext des Verantwortungsdreiecks Infrastrukturbetreiber/Eisenbahnverkehrsunternehmen/Wagenhalter erneut befassen. Damit möchten wir bei den Infrastrukturbetreibern und Eisenbahnverkehrsunternehmen als Hauptakteure gemäss EU-Sicherheitsrichtlinie und damit auch bei den NSA künftig Missverständnisse über die Auslegung der Gesetzestexte verhindern. Die aktuelle Diskussion im Schweizer Parlament zur Haftung im Schienengüterverkehr zeugt von den unterschiedlichen Interpretationen der international vereinheitlichten Regelungen des Schienengüterverkehrs durch verschiedene nationale Behörden, europäische Stellen und gewisse Teile des Eisenbahnsektors. Dass das JNS die erwähnte Empfehlung an die Branchenorganisationen abgegeben hat, erachten wir daher als Erfolg unserer bisherigen Aufklärungsarbeit.
Internationale Nachbearbeitung funktioniert gut
Der Schlussbericht der JNS Task Force belegt, dass die harmonisierten Verfahren bei Zwischenfällen und Ereignissen im Eisenbahnsektor auf europäischer Ebene hervorragend funktionieren. Sie erlauben einerseits einen breiten Erfahrungsaustausch und andererseits konkrete Verbesserungsmassnahmen, die von der gesamten Branche und allen Mitgliedstaaten mitgetragen werden.
Sobald der Schlussbericht der schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle Sust zum besagten Ereignis bereitsteht, werden wir Sie darüber informieren.